Verzeihen ohne Entschuldigung

Die Kunst des Verzeihens ohne Entschuldigung

Hast du den Ratschlag schon einmal gehört: Um seinen inneren Frieden zu finden, soll man eine Entschuldigung akzeptieren, die man nie erhalten hat? Verzeihen ohne Entschuldigung? Geht das? Der Konflikt wird doch dadurch nicht gelöst oder der Ungerechtigkeit Genüge getan. Früher habe ich nie verstanden, wie das funktionieren soll. Vielleicht funktioniert das für sehr hoch entwickelte Gurus, Mönche oder den Papst, eben sehr weise Menschen. Aber wie soll das für das gemeine Fußvolk gehen, ohne tägliche spirituelle Praxis und das Studium der alten weisen Lehren? Wie kann das ein Mensch im Alltag umsetzen, der eben nicht über ein transpersonales Bewusstsein verfügt? 

Entdecke, wie du inneren Frieden findest, auch wenn die erhofften
Worte ausbleiben.

Eine unerwartete Lektion

Eines Tages habe ich es verstanden, da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Ungewollt beigebracht hat es mir ein Mensch, der mir sehr nahesteht, mit dem ich sehr verbunden bin, ob mit oder ohne Konflikt. Überhaupt – bei Menschen, die einem emotional sehr nahestehen und mit denen man tief verbunden ist, kann man das am besten üben. Weil man hier am ehesten bereit ist, scheinbar unüberwindbare Konflikte zu lösen und auch die nötige Energie dafür aufbringen kann.

Der Moment der Erkenntnis

Also, ich hatte einen Streit. Mitten im Streit, nach meiner Argumentation, ist mir aufgefallen, dass mein Gegenüber seinen eigenen Fehler erkannte. Doch wir wissen alle, wie es ist, wenn man in Konfliktsituationen von Kampfhormonen überflutet wird, unser Reptiliengehirn in den Überlebensmodus wechselt und die eigenen Schutzmechanismen aktiviert werden – da funktioniert rationales Denken einfach nicht mehr. Meinem Gegenüber ist es zumindest in diesem Moment gelungen, den eigenen Fehler zu erkennen. Jedoch war diese Person nicht in der Lage, sich den Fehler einzugestehen, geschweige denn mir zu signalisieren, dass sie im Unrecht ist. Das alles habe ich gesehen und erkannt. Und ich habe auch erkannt, wie sehr sie gekämpft hatte. Das war der Knackpunkt.

In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich sehr wohl eine Entschuldigung akzeptieren kann, die nie ausgesprochen wird. Ich erkannte nämlich, dass mein Gegenüber mehr zu kämpfen hatte als ich. Mein Streitpartner wusste genau, was schieflief, dass es sein Fehler und nicht meiner war, und musste damit leben, dass er zum einen einen Fehler gemacht hatte und zum anderen nicht in der Lage war, diesen auszudrücken und seinem Gegenüber – in diesem Fall mir – den Fehler einzugestehen. Man könnte in diesem Kontext auch von einer Schuld sprechen, je nach Schweregrad des Fehlers.

Der Weg zur Versöhnung

Mit diesem Wissen zu leben, finde ich viel schwieriger als mit dem Wissen, dass es nie eine Entschuldigung geben wird. Wenn ich weiß, dass ich irgendwo einen Fehler gemacht habe oder mich schuldig gemacht habe, dann nagt das so lange, bis ich das wieder gutgemacht habe oder irgendwie eine Art Ausgleich geschaffen habe. Etwas in Balance zu bringen oder auszugleichen ist ein kosmisches Gesetz. Und es nagt so lange an uns, bis wir einen Ausgleich geschaffen haben. Der kann sogar generationsübergreifend erfolgen. Dieses ständige Nagen ist doch viel schwerer auszuhalten als das Wissen, ungerecht behandelt worden zu sein. Oder nicht? Diese Bürde hat viel mehr Gewicht.

Als ich das Dilemma meines Konfliktpartners erkannte, empfand ich Mitgefühl und ich wollte nicht, dass er sich so quält. Also sagte ich, dass ich die Entschuldigung, die er gerade nicht aussprechen kann, trotzdem akzeptiere. Woraufhin er sichtlich erleichtert war. Der Konflikt wurde allein dadurch bereinigt.

Ein schwieriger Fall

Nach dieser Erkenntnis dachte ich über einen offenen Konflikt nach, den ich seit ein paar Jahren mit einer anderen Person hatte und der sehr viel härter war. Und auch hier weiß ich, dass diese Person tief im Inneren genau weiß, dass sie viele Fehler gemacht hat, sich diese aber aus Selbstschutz schönredet, Tatsachen verdreht oder leugnet. Nichtsdestotrotz bin ich sicher, dass sie tief im Inneren weiß, dass sie Fehler, sogar sehr grobe Fehler gemacht hatte. Was ihr fehlt, sich diese Fehler einzugestehen, ist eine gewisse Reife. Ob sie die jemals erlangt, steht in den Sternen, das vermag ich nicht zu beurteilen. Was ich beurteilen kann, ist, dass es viel schwieriger ist, jahrelang Tatsachen zu verdrehen, zu leugnen, sich und andere zu belügen, ob nun aus reinem Selbstschutz oder nicht. Das kostet diese Person nicht nur viel Energie, sondern leider auch Glaubwürdigkeit. Der Preis, den sie zahlen muss, ist viel höher als mein Preis, den ich aufbringe, wenn ich sage, dass ich es auf sich beruhen lassen kann, in Anbetracht des hohen Preises, den diese Person zahlen muss.

Der Weg zum inneren Frieden

Wenn ich die Situation aus dieser Perspektive heraus betrachte, dann spüre ich, dass es gar keine Entschuldigung braucht. Nach meinem Verständnis ist hier der Gerechtigkeit Genüge getan und ich habe meinen Frieden zurück. Wenn mir dieser Mensch sehr am Herzen liegen würde oder es mir die Sache wert ist, könnte ich zu ihr gehen und wie im ersten Fall sagen, dass ich die nicht ausgesprochene Entschuldigung akzeptiere. Dann kann die Liebe wieder fließen. Wenn ich mich von der Person wie im zweiten Fall deutlich distanzieren möchte und sie auch keine Rolle mehr in meinem zukünftigen Leben spielen wird, dann kann ich auch einfach innerlich Frieden schließen, indem ich mir den Preis anschaue, den sie zahlen muss und der in meinen Augen mit der Zeit sogar noch steigt.

Der Umgang mit Uneinsichtigkeit

Was ist nun mit Menschen, die ihre Fehler nicht erkennen? Die absolut uneinsichtig sind? Das kann folgende Gründe haben:

  • Du kannst Sachverhalte nicht gut erklären und schaffst es nicht deinem Gegenüber deine Perspektive verständlich zu machen
  • Du bist vielleicht selbst das Problem, hörst nicht zu und verstehst die Perspektive deines Gegenübers nicht
  • Dein Gegenüber besitzt nicht die Intelligenz, das Bewusstsein oder die nötige Reife komplexe Sachverhalte zu verstehen

Die Metapher der Wüste

Hier benutze ich gerne eine Metapher: Stell dir vor, du wärst im Besitz von Samen, ganz seltener und wertvoller Pflanzensorten. Würdest du damit in die Wüste ziehen, um einen Garten anzulegen? Nein, vermutlich nicht, denn die Wüste ist keine ideale Umgebung für seltene Pflanzen. Dir ist vollkommen klar, dass du nicht nur die Samen verschwenden würdest, sondern auch deine Zeit und Energie. Genauso ist es mit Menschen, deren Bewusstsein einer Wüste gleicht. Egal wie du argumentierst oder erklärst, du wirfst deine kostbaren Samen in die Wüste. Also verschwende nicht deine kostbare Lebenszeit und Energie und investiere sie in Menschen oder Projekte, die sich lohnen.

Wenn Distanz keine Option ist

Was, wenn du dich aus welchen Gründen auch immer nicht von dieser Person oder ihrem Verhalten distanzieren kannst? Das Einzige, das du dann tun kannst, ist, dich zu fragen, warum du in dieser Dauerschleife gefangen bist. Warum fällt es dir so schwer, die Wüstenlandschaft im Kopf deines Gegenübers anzuerkennen?

Als Rückführungstherapeutin weiß ich, dass manche Menschen auf Seelenebene miteinander verstrickt sind. In diesem Fall wird es dir schwerfallen, dich von ihm zu lösen. Gerade wenn wir feststecken und festgefahren sind, wenn kein analytisches Vorgehen oder keine verhaltenstherapeutische Maßnahme mehr greift, dann ist eine Rückführung zum Beispiel sehr hilfreich – quasi ein Herausbeamen auf Seelenebene – um ein tieferes Verständnis zu bekommen.

Ein Beispiel aus der Praxis

Ein Beispiel: Meine Freundin hatte ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter. Ein entspanntes Beisammensein war nicht möglich. Nach mehreren Rückführungen verbesserte sich das Verhältnis enorm. Meine Freundin war gelassener, reagierte weniger heftig und nach einer Zeit überhaupt nicht mehr auf die Vorwürfe der Mutter. Irgendwann hörten die Vorwürfe der Mutter auf und meine Freundin pflegte ihre Mutter bis zu ihrem Tod. Sie war täglich mit ihr zusammen und spürte zum Schluss eine tiefe Liebe, die zwischen beiden floss.

Praktische Schritte zur Selbstreflexion

Was kannst du **jetzt** konkret tun? Du kannst dich selbst reflektieren, indem du dich fragst:

Warum ist es mir so wichtig, diese Person zu überzeugen? Warum halte ich an dem Thema/an der Person fest? Was ist mein Motiv? Und das ist nicht immer leicht zu beantworten. Will ich mein Gegenüber überzeugen, weil ich verletzt bin? Weil mir Unrecht getan wurde und ich Gerechtigkeit will? Ist meine Reaktion angemessen? Gibt es vielleicht eine Verwechslung oder Übertragung: Sprich, erinnert mich dieses Geschehen an frühere Erlebnisse, die mich sehr verletzt haben? Wenn meine Ohnmacht, die ich in diesen Streitgesprächen immer fühle, Worte hätte, welche Worte wären das? So kommst du dem Kern schon ein Stück näher.

Lernen aus schwierigen Beziehungen

Du kannst dich auch immer fragen: Was kann ich im Konflikt mit so einem Menschen am besten lernen? Beispiel: Narzissten lehren uns, eigene Grenzen zu definieren und zu setzen. Zu sich selbst zu stehen. Nicht nur zu geben, sondern auch mal etwas selbstbewusst zu fordern. Das eigene Helfersyndrom zu hinterfragen, denn Narzissten (das sind die, die nur nehmen und wenig bis gar nichts zu geben bereit sind) suchen sich Menschen, die gerne und viel geben und nicht wirklich fähig sind zu nehmen. Das perfekte Duo also, nur dass der Geber irgendwann ausblutet.

Die Dynamik toxischer Beziehungen

Ich gebe dir wieder ein Beispiel, damit du besser verstehst, was ich meine. Nehmen wir nochmal den Narzissten, mit dem du dich abmühst. Gehen wir mal davon aus, dass du mit einem Narzissten in einer Partnerschaft bist und du mühst dich die ganze Zeit ab, alles richtig zu machen. Im ersten Schritt hast du erkannt, dass er etwas besitzt, wonach du dich unheimlich sehnst: Das sind die Liebeshäppchen, mit denen er dich vor allem am Anfang eurer Beziehung bombardiert hat. Endlich jemand, der mich sieht, der mich liebt, für den ich die Nummer 1 bin. Diese Liebeshäppchen sind wie eine Droge, nach der du süchtig bist, und wie bei jedem Süchtigen flacht die Highkurve mit jeder Dosis ab und du brauchst immer mehr von dem Stoff, um dich so high davon zu fühlen wie am Anfang eurer Beziehung.

Der Weg zur Heilung

Das Problem ist nur, du bekommst immer weniger für den gleichen Einsatz. Und dann mühst du dich ab, wirst immer frustrierter und energieloser, bis du nur noch im Funktionsmodus unterwegs bist und innerlich komplett leer. Jetzt hast du im ersten Schritt erkannt, dass du süchtig nach den Liebeshäppchen bist. Und wie bei jedem Suchtkranken ist das schon ein riesiger Schritt und einer der wichtigsten.

Im zweiten Schritt erkennst du die eben beschriebene Dynamik dahinter und den Teufelskreis, in dem du dich befindest. Und diese Klarheit ist wichtig, um wichtige Entscheidungen zu treffen.

Im dritten Schritt wird dir vielleicht klar, dass du schon sehr lange auf der Suche nach Liebeshäppchen und Anerkennung bist und dass es nicht die Liebe deines Partners ist, nach der du dich sehnst, sondern dass du dich dein Leben lang nach der Anerkennung und Liebe deines Vaters sehnst. Dir wird bewusst, dass dein Partner stellvertretend für deinen Vater steht.

Im vierten Schritt erkennst du nun, wie wichtig es jetzt ist, sich um seine eigenen Bedürfnisse selbst zu kümmern und sie an erste Stelle zu setzen.

Der Weg zum inneren Frieden

Erzeugen diese Antworten ein AHA in dir? Wunderbar: du bist auf dem richtigen Weg. Wenn sich eine Art Gelassenheit und innerer Frieden einstellt: herzlichen Glückwunsch, du hast deine Selbstheilungskräfte aktiviert.

Wenn du trotz der Erkenntnisse nicht zur Ruhe kommst und das Gefühl hast, du steckst fest, dann bist du vielleicht karmisch mit dieser Person verstrickt, dann kann es helfen sich in einer Rückführung anzuschauen, was euch verbindet. Hier kannst du direkt eine therapeutische Einzelsitzung buchen.