„Die beiden Mädels sind bestimmt lieb. Hier waren sie es immer, wir haben nur Freude an ihnen gehabt. Sie werden dir bestimmt auch schon viel helfen.“ Diese beiden Sätze las ich gestern in einem Brief, den meine Großmutter 1989 meiner Mutter geschrieben hat. Er erzeugt in mir gemischte Gefühle. Zum einen, weil ich die Liebe spüre, die meine Großmutter mir und meiner Schwester entgegenbrachte und gleichzeitig die Sozialisation, die wir als Mädchen erfahren durften.
Lieb und brav sein, und schön der Mutter helfen. Wütend oder zornig sein? Nein, das gehört sich schließlich nicht als anständiges Mädel.
Viele Frauen wissen, worüber ich spreche. Eine Sozialisation, die Spuren hinterlassen hat. Wie oft höre ich von Frauen, dass sie nicht wütend sein können. Dabei ist Wut nur ein Gefühl. Ein Gefühl das zum Spektrum der menschlichen Erfahrungen, die wir hier auf Erden machen, nicht fehlen darf. Wut ist noch viel mehr als das: Wut ist Lebenskraft, ist pure Lebensenergie.
Das Marsprinzip: Urkraft und Tatendrang
In der Astrologie wird die Wut dem Planeten Mars zugeordnet. Wer heute an Mars denkt, denkt meist an aggressives, rücksichtsloses Handeln. In der römischen Mythologie ist Mars der Kriegsgott. Menschen, die unter dem Einfluss eines starken Mars stehen, haben einen hohen Tatendrang, viel Lebenskraft, einen fordernden Willen, Ehrgeiz, Leidenschaft und Kämpfergeist. Jedoch neigen sie auch zu groben, unsensiblen, ignoranten Verhalten. Diese Menschen lassen sich kaum bremsen und ecken oft an, weil sie mit ihrer Kraft andere überrennen. Gleichzeitig liegt darin die Chance, sich seiner Wirkung auf andere Menschen bewusst zu werden und die eigenen Verhaltensweisen zu korrigieren.
Unterdrückte Marsenergie = unterdrückte Wut
Im Grunde ist Marsenergie primär die Lust am Tun, die Lust an der Aktivität, der bewusste Wille etwas zu entwickeln, zu verändern, zu gestalten. Die Auswirkung dieser Kraft ist primär wertfrei, ohne aggressive oder zerstörerische Absicht. Dazu kommt es erst, wenn diese Kraft durch Hindernisse gebremst wird. Ist das Marsische in uns zu schwach, fehlt es uns an Antrieb, Tatendrang, Durchsetzungsvermögen und natürlich Lebensenergie. Zu früh gestaute Marsenergie führt zu Frust, bis hin zu schweren Zwangserscheinungen, zu Ticks oder auch zu gefährlichen Durchbrüchen dieser unterdrückten Aggressivität. Aggressive Energie zu leben, will natürlich gekonnt sein. Sie ist unerlässlich für alle konstruktiven, gestalterischen Tätigkeiten. Unterdrückte Aggressivität macht dagegen linkisch, hinterhältig, feige und intrigant.
Doch wenn uns Frauen, das marsische Prinzip aberzogen wird, wohin mit der Energie? Wie konnte es dazu kommen? Und warum ist es für uns so problematisch?
Ein Workshop für Frauen zur Erweckung ihrer Lebenskraft
Historische Wurzeln: Von Hexenverfolgung bis zum NS-Frauenbild
Die Unterdrückung weiblicher Wut hat eine lange Geschichte. Im Mittelalter wurden wütende, aufbegehrende Frauen schnell als Hexen verdächtigt. Die Hexenverfolgungen dienten auch dazu, selbstbewusste und widerspenstige Frauen einzuschüchtern und zu kontrollieren. Diese historische Erfahrung ist tief im kollektiven Gedächtnis verankert.
Schauen wir uns die ideale „christlichen Frau“ an: sie ist geprägt von Demut, Gehorsam und Sanftmut. Die Jungfrau Maria als Vorbild: still duldend, aufopfernd und frei von niederen Emotionen wie Wut oder Zorn. Im Gegensatz dazu wurde Eva als warnendes Beispiel dargestellt – die Frau, die sich auflehnte und damit Unheil über die Menschheit brachte. Und die aufmüpfige, selbstbewusste Lilith komplett verbannt.
Das NS-Frauenbild und seine Nachwirkungen
Wie sieht das deutsche Frauenbild aus der Zeit des Nationalsozialismus aus? Ein Frauenbild, dass sehr der „traditionellen“ Frau nach AFD-Maßstäben ähnelt. Das NS-Regime propagierte ein sehr spezifisches Frauenideal: Die deutsche Frau sollte vor allem Mutter sein, duldsam, aufopferungsvoll und dem Mann untergeordnet. Emotionen wie Wut oder Aufbegehren wurden als „undeutsch“ und „entartet“ gebrandmarkt.
Die „deutschen Mutter“ als stoische Dulderin, die auch in schwersten Zeiten nicht aufbegehrt, sondern still ihre Pflicht erfüllt. Diese Ideologie wurde in Schulen, Medien und in der „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) systematisch vermittelt. Mädchen und junge Frauen lernten, ihre individuellen Bedürfnisse und Gefühle dem „Volkskörper“ unterzuordnen.
Diese Prägung wirkte weit über 1945 hinaus. Sie wurde von der Kriegsgeneration an ihre Töchter weitergegeben.
Die frühe Prägung: Wenn Wut „unweiblich“ ist
Schon von klein auf lernen viele Mädchen, dass Wut nicht zu ihrem Geschlecht passt. Während bei Jungen wütendes Verhalten oft als normal oder sogar als Zeichen von Durchsetzungsstärke interpretiert wird, erfahren Mädchen häufig das Gegenteil: Sie sollen lieb, verständnisvoll und harmonieorientiert sein.
Diese frühe Konditionierung setzt sich im Erwachsenenalter fort. Wütende Frauen werden schnell als „hysterisch“, „zickig“ oder „überemotional“ abgewertet. Interessant ist dabei der historische Kontext: Der Begriff „Hysterie“ wurde jahrhundertelang genutzt, um aufbegehrende Frauen zu pathologisieren und ihre berechtigte Wut als Krankheit abzustempeln.
Die Folgen der Wut-Unterdrückung
Was passiert, wenn Frauen ihre Wut jahrelang unterdrücken? Schließlich verschwindet die unterdrückte Wut nicht einfach, sondern wird oft in „akzeptablere“ Gefühle umgewandelt: Traurigkeit, Selbstzweifel, diffuse Ängste oder psychosomatische Beschwerden.
Unterdrückte Wut schwächt unsere Selbstwahrnehmung: Wut ist ein wichtiges Signalgefühl. Sie zeigt uns, wenn unsere Grenzen verletzt werden oder wenn uns Unrecht geschieht. Wer keinen Zugang mehr zu seiner Wut hat, dem fehlt ein wichtiger innerer Kompass.
In Medien und Gesellschaft fehlen weitgehend positive Darstellungen von Frauen, die konstruktiv mit ihrer Wut umgehen. Stattdessen werden wütende Frauen oft als Karikaturen dargestellt: als hysterische Furien oder verbitterte Männerhasserinnen. Denken wir an Karen, die zu einem Meme für hysterische Frauen in der Öffentlichkeit wurde. Weibliche Wut ist berechtigt und kann wertvoll sein.
Warum wir weibliche Wut brauchen
Der historisch erzwungene Verlust des Zugangs zur Wut ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern hat auch gesellschaftliche Konsequenzen. Denn Wut kann eine wichtige Triebfeder für Veränderung sein. Sie macht uns aufmerksam auf Missstände und gibt uns die Energie, diese zu bekämpfen.
Eine Gesellschaft, in der die Hälfte der Bevölkerung keinen Zugang zu ihrer gerechten Wut hat, verliert ein wichtiges Korrektiv. Unterdrückte Wut bedeutet auch unterdrückte Kraft zur Veränderung.
Ich möchte dich ermutigen, dich mit deiner eigenen Wut auseinanderzusetzen. Spürst du sie überhaupt noch? Wie bist du sozialisiert worden? Wie kannst du deine Wut konstruktiv kanalysieren und leben?
Vielleicht kannst du sie schrittweise zulassen, in einem sicheren Rahmen. Dabei geht es nicht darum, ständig wütend zu sein oder Wut unkontrolliert auszuleben. Sondern darum, Wut als legitimes und wichtiges Gefühl anzuerkennen und einen gesunden Umgang damit zu entwickeln.
Fazit
Der verlorene Zugang zur Wut ist ein weitverbreitetes Phänomen unter Frauen – aber kein unabänderlicher Zustand. Die Wurzeln reichen tief in unsere kulturelle und religiöse Geschichte zurück. Doch je mehr Frauen sich trauen, ihre Wut wieder zu spüren und zu zeigen, desto mehr positive Vorbilder entstehen für nachfolgende Generationen. Und desto mehr kann sich auch gesellschaftlich etwas verändern.
Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir aufhören, wütende Frauen zu verurteilen, und stattdessen anfangen zu fragen: Worüber sind sie wütend? Und was sagt uns diese Wut über die Zustände in unserer Gesellschaft?